Gastbeitrag von Jana Steuer, Diplom-Rehabilitationspädagogin und Ergotherapeutin
Pädagogische Fachkräfte in den Freiwilligendiensten stehen immer wieder vor der Herausforderung, Bildungsseminare für heterogene Gruppen inklusiv und diversitätsbewusst zu gestalten. Freiwillige können unterschiedliche Bedürfnisse in Lern- und Gruppenkontexten aufweisen – sowohl in Bezug auf Behinderungen und Beeinträchtigungen als auch aufgrund von Neurodivergenzen (wie Autismus oder ADHS), psychischen Belastungen, Sprachbarrieren, kulturellen Unterschieden, verschiedenen Bildungsniveaus und Erfahrungen mit dem Schulsystem usw. Inklusive Lernangebote müssen verschiedene Diversitätsdimensionen mitdenken, denn in der Regel sind verschiedene Diversitätsmerkmale miteinander verwoben. Damit Lernangebote viele Bedürfnisse abdecken, ist es nötig, ein möglichst flexibles und anpassbares Konzept zu entwickeln.
Dieser Beitrag bietet eine Übersicht zu den wichtigsten Faktoren der Gestaltung und Durchführung inklusiver Seminare. Er lädt dazu ein, die etablierte Praxis der Seminargestaltung, die Rolle als Seminarleitung und die Rolle der Teilnehmenden zu reflektieren und zu hinterfragen.
Vorbereitung und Konzeption inklusiver Seminare: Lernbedürfnisse ermitteln und Lernziele hinterfragen!
Für eine inklusive Seminargestaltung gilt es zu überprüfen, ob etablierte Methoden flexibel genug sind, um Lerninhalte bedürfnisorientiert zu vermitteln. Das heißt in der Planung und Umsetzung: Was möchte ich mit diesem Lernangebot erreichen? Und: Was lässt sich im Rahmen des Seminars tatsächlich leisten? Die Reflexion darüber ermöglicht es, Lernziele neu zu definieren und gängige Methoden kritisch zu hinterfragen.
Hilfreich für die Planung und Konzeption inklusiver Seminare sind Vorgespräche mit den Teilnehmenden, um zu erfahren:
- welche Bedürfnisse und Unterstützungsbedarfe sie haben,
- was ihre individuelle Bewältigungsstrategien sind und welche Hilfsmittel sie verwenden,
- welche Bedingungen nötig sind, um diese auch nutzen zu können,
- welche zusätzlichen Anpassungen erforderlich sind,
- wie die Teilnehmenden angesprochen werden möchten und welche Selbstbezeichnungen sie verwenden.
Alternativ zu Vorgesprächen können auch Fragebögen und Umfragen genutzt werden. Manchmal ist auch ein zusätzliches individuelles Gespräch hilfreich. Die frühzeitige Einbeziehung der Teilnehmenden ist wertvoll und sollte fest in den Konzeptionsablauf integriert werden.
Durch inklusive Seminargestaltung positive Lernerlebnisse für alle schaffen: Prinzipien inklusiver Pädagogik
Inklusive Bildungsseminare vermitteln Wissen und Kompetenzen, stärken die vorhandenen Fähigkeiten der Teilnehmenden, geben Impulse zur Persönlichkeitsentwicklung, schaffen Raum für Reflexion und ermöglichen neue Kontakte. Das Lernerlebnis soll auch über das Seminar hinaus selbständiges Lernen und Reflektieren vermitteln sowie die Kompetenz, sich eigenständig Unterstützung beim Lernen und Weiterbilden zu suchen.
Hilfreich sind dabei pädagogische Ansätze und Methoden, die das Lernen durch Handlung, Bewegung und Anwendung strukturieren und gleichzeitig so flexibel sind, dass sie sich verschiedenen Lernbedürfnissen (bzw. Einschränkungen) anpassen lassen.
Dass Wiederholung und Anwendung das Erlernte festigen, ist weitreichend bekannt. Menschen lernen vor allem dann erfolgreich, wenn sie die Inhalte ihren Bedürfnissen entsprechend reflektieren und anwenden können. Handlung und Anwendung der in den Seminaren vermittelten Inhalte ermöglichen es, das neue Wissen zu wiederholen und zu verarbeiten, Hilfsmittel einzusetzen und Anpassungen vorzunehmen. Diese Anpassungen können individuell auf die Bedürfnisse einer Person oder auch auf die Bedürfnisse und Dynamik einer Gruppe zugeschnitten sein. Geeignete Methoden sind beispielsweise Kleingruppen- und Einzelarbeiten sowie moderiertes oder unmoderiertes Arbeiten in der Seminargruppe.
Ein weiteres Schlüsselelement für positive Lernerlebnisse ist Selbstwirksamkeits-Überzeugung. Positive Lernerlebnisse entstehen unter Bedingungen, die allen Teilnehmenden zu der Überzeugung verhelfen, die Lernangebote bewältigen zu können. Dazu gehört, Inhalte zu verstehen und wieder abrufen zu können, sich an Gruppenarbeiten beteiligen zu können, Fragen zu stellen und zu beantworten sowie eigene Ideen zu präsentieren. Voraussetzung dafür ist, dass individuelle Lernbedürfnisse und Lernstrategien anerkannt und ernstgenommen werden. Es braucht Offenheit und Wertschätzung seitens der Seminarleitung, um nachzufragen und herauszufinden, was für die Teilnehmenden hilfreich ist und was nicht. Erprobte und bewährte Methoden können sich als unpassend und sogar ausschließend erweisen. Wir müssen uns erlauben, unsere Methoden und Konzepte zu hinterfragen und schon in der Vorbereitung und Konzeption eines Seminars Bedingungen schaffen, die es allen Beteiligten ermöglichen, die gestellten Herausforderungen zu bewältigen.
Darüber hinaus bieten folgende Ansätze Orientierung bei der Konzeption und Durchführung inklusiver Lernangebote:
- Ressourcenorientierung
- beobachten statt interpretieren
- Strategien der Teilnehmenden zur Lern- und Informationsverarbeitung ernstnehmen und anerkennen (bspw. Stimming, Laptop statt Papier, andere Aufarbeitung der Ergebnisse)
- Lernangebote bei Bedarf (individuell) anpassen
- Handlung oder Medium als Lernanlass nutzen (z. B. Einzel- oder Gruppenarbeit nutzen, um Informationen zu verarbeiten)
- Inhalte verknüpfen und wiederholen (z. B. Materialien anderer Themen wieder aufgreifen und nutzen)
Ansatzpunkte für die inklusive Seminargestaltung
Seminare inklusiv zu gestalten, ist auf verschiedene Weise möglich. Die folgenden Tipps zeigen, auf welchen Ebenen Seminarleitungen ansetzen können, um die Teilhabe allen zu ermöglichen.
1. Räumliche Bedingungen
Seminare inklusiv zu gestalten, ist auf verschiedene Weise möglich. Die folgenden Tipps zeigen, auf welchen Ebenen Seminarleiterinnen und Seminarleiter ansetzen können, um die Teilhabe allen zu ermöglichen.
Schon die Seminarräumlichkeiten können mit zahlreichen Barrieren einhergehen – von Lage, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit bis hin zu Größe, Lichtverhältnissen und Akustik. Wer die Verfügbarkeit barrierearmer Räume mit entsprechender Ausstattung berücksichtigt, kann zur Inklusion beitragen.
Gibt es beispielsweise einen Ruheraum, der als Rückzugsort benutzt werden kann, oder die Möglichkeit, weitere Räume für Kleingruppenarbeit zu nutzen? Sind die vorhandenen Möbel so anpassbar, dass sie von einer möglichst großen Gruppe von Menschen genutzt werden können? Ein Raum, in dem es ausschließlich Stehtische gibt, ist für Rollstuhlnutzende beispielsweise ungeeignet. Die Barrierefreiheit der sanitären Einrichtungen ist ebenfalls zu berücksichtigen. Hierzu zählt z. B. die Barrierefreiheit für Rollstuhlnutzende, aber auch die Verfügbarkeit von genderneutralen Toiletten.
2. Zeitliche Struktur und Ablauf
Eine bedürfnisorientierte Zeitplanung trägt ebenfalls zur Inklusion in Seminaren bei. Zu berücksichtigen gilt es hier den Gesamtumfang des Seminars, an welchen Wochentagen es stattfindet, Start- und Enduhrzeiten sowie Pausenzeiten, Pausenregelungen und Flexibilität der zeitlichen Struktur. Die Jahreszeiten können sich unterschiedlich auf die Verfügbarkeit von Rückzugs- und Entspannungsmöglichkeiten auswirken.
Gibt es beispielsweise keinen separaten Pausenraum, kann dies bei guten Witterungsbedingungen durch Pausen im Freien kompensiert werden. Findet das Seminar im Winter statt, sollten Rückzugsmöglichkeiten in Räumen geschaffen werden.
Ein zeitlicher Puffer, um einzelne Programmpunkte abzuschließen, nimmt Druck und ermöglicht es Seminarleitungen, Lernangebote oder Programmpunkte spontan an die Bedürfnisse der Gruppe oder individuellen Teilnehmenden anzupassen. Eine individuelle und flexible Pausengestaltung hilft dabei, Überforderungssituationen aufzufangen und gemäß der jeweiligen Belastbarkeit zu arbeiten.
3. Lernangebote und Methoden
Um Barrieren in Lernangeboten und Methoden zu identifizieren, kann es hilfreich sein zu prüfen, inwiefern die Lernangebote und -methoden
- die Teilnehmenden als aktiv handelnde und selbst strukturierende Individuen einbeziehen und
- die Handlung der Teilnehmenden als sinn-, absichtsvoll und zielgerichtet verstehen.
In der Umsetzung bedeutet das, die Teilnehmenden in die Gestaltung der Lernangebote und Methoden einzubeziehen. Lernstrategien und -bedürfnisse können beispielsweise in einem Vorgespräch abgefragt und in der Methodenauswahl berücksichtigt werden. Lernangebote sollen flexibel geplant werden, damit Seminarleitungen Anpassungen vornehmen können. Sind die Themen miteinander verknüpft und bauen systematisch aufeinander auf, werden Verarbeitung, Wiederholung und Anwendung des Erlernten möglich. So lässt sich auch verfolgen, wie die Inhalte von den Teilnehmenden verarbeitet werden.
4. Sprache
Inklusion durch Sprache kann in Seminaren beispielsweise durch mehrsprachige Materialien, Hilfsmittel (siehe Textblock 5), Bildbeschreibungen, Untertitel, das Verzichten auf diskriminierende Begriffe und die Wahl des Sprachstils (akademische Sprache, Umgangssprache, Leichte oder Einfache Sprache usw.) umgesetzt werden.
Zur Inklusion mehrsprachiger Teilnehmender empfiehlt es sich, abzusprechen, in welchem Umfang mehrere Sprachen verfügbar sein müssen. Dies kann mehrsprachige Materialen oder Handouts umfassen, die Verfügbarkeit relevanter Schlüsselbegriffe oder Definitionen in mehreren Sprachen, die Verwendung von Hilfsmitteln (Übersetzungsprogramme, Apps, Untertitel für Videos, ausführliches Skript) oder auch die Unterstützung durch eine weitere mehrsprachige Person. Mehrsprachige Teilnehmende und ihr Netzwerk können einbezogen werden, um geeignete Lösungen zu finden.
Ebenfalls sinnvoll ist es, sich im Vorfeld darüber zu informieren, welche Selbstbezeichnungen die Teilnehmenden für sich verwenden und welche Ansprache sie wünschen. Sich beispielsweise als Seminarleitung direkt mit entsprechendem Pronomen vorzustellen, kann Teilnehmende ermutigen, ihre Pronomen zu nennen.
5. Hilfsmittel
Neben sichtbaren Hilfsmitteln, wie einem Rollstuhl, gibt es eine große Bandbreite von Hilfsmitteln, die von ganz alltäglichen Gegenständen (Kopfhörer) bis hin zu digitalen Lösungen (Screenreader, also Vorlese-Software für digitale Texte) reichen. Nicht immer werden Hilfsmittel von Nicht-Betroffenen auch als solche erkannt und akzeptiert. Um Missverständnisse und Frustration zu vermeiden, ist ein offener Umgang mit Hilfsmitteln zu empfehlen. Seminarleiterinnen und Seminarleiter können beispielsweise mit Teilnehmenden ins Gespräch gehen und idealerweise vor dem Seminar klären, welche Hilfsmittel eingesetzt werden.
Beispielsweise können Sonnenbrille, Gehörschutz, Kopfhörer und Stimming-Toys für autistische Menschen und Personen mit ADHS eine wichtige Unterstützung sein. Musikhören über Kopfhörer kann hilfreich sein, um sich zu konzentrieren oder in Überforderungssituationen zu entspannen.
Verschriftliche Materialien sollten auch als digitale Dateien zur Verfügung gestellt werden, mit der Möglichkeit, diese auf einem Laptop zu benutzen. So können Teilnehmende sie sich bei Bedarf mittels Spracherkennungssoftware vorlesen lassen oder in die bevorzugte Sprache übersetzen. Diese Hilfsmittel können von den Freiwilligen selbst mitgebracht oder durch die Leitung zur Verfügung gestellt werden, ohne dass spezielle Kenntnisse nötig sind. Zu vielen Hilfsmitteln sind Informationen leicht zugänglich und können online recherchiert werden.
Fazit: Inklusive Seminargestaltung bietet viele Chancen
Ein Seminar inklusiv zu gestalten und die Bedürfnisse einer diversen Gruppe zu berücksichtigen, setzt Sensibilität und Bewusstsein auf Seiten der Seminarleitung und Institutionen voraus, die für die Rahmenbedingungen verantwortlich sind. Menschen erleben sich und den Umgang mit ihren Diversitätsmerkmalen im sozialen Kontext und in Auseinandersetzung mit der Umwelt. Grundsätzlich gilt: Die Bedürfnisse zweier Menschen, die ähnliche Diversitätsmerkmale aufweisen, werden nie vollkommen übereinstimmen, genauso wenig wie ihr Selbstverständnis.
Konstante Veränderungen in der Gesellschaft und Arbeitswelt bieten neben Herausforderungen die Möglichkeit, Platz zu schaffen für neue Denkweisen und Perspektiven. Unsere Gesellschaft ist von jeher divers. Durch Normen und Strukturen sind nicht alle Bereiche für alle Menschen gleichermaßen zugänglich. Inklusion bietet mehr Chancen als Herausforderungen, da alle von einem wertschätzenden und menschenorientierten Lernumfeld profitieren.
Zur Gastautorin: Jana Steuer ist UX-Designerin, Diplom-Rehabilitationspädagogin und Ergotherapeutin. Sie ist selbst ADHSlerin und bringt so neben ihrer professionellen Perspektive auch eine Innenperspektive auf das Thema inklusive Seminargestaltung mit. Ihre Schwerpunktthemen sind Inklusion und Barrierefreiheit in den Bereichen Design, Bildung und Gesundheit.
Weitere Arbeitshilfen zur inklusiven Seminargestaltung:
„Handbuch: Seminare inklusiv gestalten: Methodenhandbuch für Freiwilligendienste und internationale Begegnungen“
Das Handbuch „Seminare inklusiv gestalten“ wurde gemeinsam herausgegeben von Jugend Eine Welt (WeltWegWeiser), Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e. V. (bezev), IN VIA Köln e. V., Verein Grenzenlos – Interkultureller Austausch und Neo Sapiens S.L.U. Das Handbuch umfasst detaillierte Informationen, Praxisempfehlungen und Aktivitäten, die sich für inklusive Seminare im Umfang mit Vielfalt und verschiedenen Lernbedürfnissen eignen.
„Inklusive Seminargestaltung“, BKJ – Bundesvereinigung kultureller Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020)
„Praxishandbuch für Trainer*innen: Vielfaltsbewusst Seminare gestalten“ BUND Deutschland
Ramp-Up.me
Ramp-up.me ist ein Projekt des Sozialhelden e. V. Das Team gibt Tipps, wie Veranstaltungen barrierefrei gestaltet werden und wie durch barrierefreie Kommunikation mehr Menschen erreicht werden können.